2 CORONA-SLAMGEDICHTE 2021: STIFTUNG DER LAVENDELLEUGNER & "L"OCKDOWN-TO-EARTH


#BETREUXIT (Pflexit der Betreuungskräfte)



Tom Holzapfel, 3.10.2021 @ www.Betreuungsalltag.de

AKTIVE NEUTRALITÄT ALS VALIDATIONSTECHNIK

Wie leere "Spiegelgespräche" als Balsam für die Seele wirken

Die Kurzversion erschien als EXPERTEN-TIPP im Altenpflege-Magazin "Aktivieren" (Mai 2022)

 

In meiner künstlerischen Jugend (ich gehöre inzwischen zu den Ü50ern) faszinierte mich das Buch "Aktive Neutralität" von Joseph Beuys schon allein wegen des Titels, aber ich ahnte damals nicht, daß das zu meiner Lieblingsmethode in der biografisch orientierten Betreuung dementer Senioren werden könnte. Dann las ich "Der leere Spiegel" von Janwillem van de Wetering, als mir keine Religion mehr Antworten auf meine Sinnfragen gab, und bemerkte dadurch im Selbstversuch, daß ich keine letzte, eigentliche, absolute Identität aus meinem Gesicht herauslesen konnte: da waren nur wechselnde Masken über einem unendlichen Loch!


Warum ich so weit ausholen muss, um über meine heutige Arbeit in Pflegeheimen zu sprechen, wird schnell klar, wenn man als Laie nur einmal aus Neugier eine Schicht mit einem Betreuer mitläuft: der Laie würde in den wenigsten Situationen verstehen, warum ich mich so verhalte, wie ich es tue, weil es sich oft völlig entgegengesetzt zu dem anfühlt, wie wir im normalen Alltag als Nichtdemente miteinander kommunizieren. In dem Wort K...om...munikation steckt das Meditationsmantra "OM", das meine Version der sogenannten "Integrativen Validation" auszeichnet, auf die sich im Grunde die gesamte wissenschaftliche Theorie der Betreuung reduzieren lässt; denn sämtliche Ansätze (von u.a. Naomi Feil, Nicole Richard, Tom Kitwood, Carl Rogers und Martin Buber) laufen auf dasselbe hinaus: validieren, validieren, nichts als validieren, validieren ist alles – den Mensch als zu ergründendes Rätsel respektvoll wertfrei ernstnehmen!


Das Om in Deinem innersten Seelenzentrum zu spüren und diese Schwingung der unendlichen Leere durch Dich hindurch fließen zu lassen, ist die perfekte Voraussetzung, um die Heimbewohner nicht mit unzähligen Gruppenangeboten zu bombardieren oder ihnen tausende Fragen nach ihren Bedürfnissen zu stellen (maximal eine einzige eindeutige Frage kann bereits restlos überfordern!), sondern sich zunächst einmal einfach nur leise dazu zu setzen und abzuwarten, was sich in der Kaffeeklatschrunde von alleine entwickelt. Beim genauen Beobachten der Gruppendynamik im Zeitlupentempo der kollektiven Bewusstseinsatmosphäre entstehen allmählich automatisch Reaktionen auf Mikrogesten und Satzfragmente der Senioren, die nicht nur der Vertrauensstiftung dienen, sondern sogar einen Einstieg in die Biografiearbeit ermöglichen. Hinter jeder Maske des spontanen Ausdrucks lauert die gesamte Lebensgeschichte, die sich mir immer tiefer offenbaren kann, wenn ich meine eigene Geschichte/Identität zu Beginn der Schicht abstreife, um mit einem leeren Blick alle Signale zu empfangen, die durch den Raum schwirren. Erst dann bin ich bereit, ohne Leistungsdruck und Erfolgszwang quasi "progressiv passiv" zurückzuspiegeln, was passiert oder ausgedrückt wird: ich werde zum leeren Spiegel der aktiven Neutralität!


Als junger Mensch wäre ich nicht dazu fähig gewesen, die eigenen Wünsche, Unsicherheiten und Bedürfnisse hätten das Abwartenkönnen, Zuhören und Nichtprojizieren verhindert. Der eigene Anspruch, sich mit quantitativen Erfolgen zu profilieren und die Angst, nicht genug dokumentieren zu können, was für den MDK nach korrekter seriöser Betreuung aussieht, hätten das Wichtigste meiner jetzigen Arbeit verhindert: die GEDULD aufzubringen, den Mensch in seiner noch so verrückt oder surreal wirkenden Eigenart komplett tabulos anzunehmen anstatt ihn "zu seinem eigenen Wohle" verändern zu wollen. Und plötzlich erzählt ein Dementer wieder einige zusammenhängende Sätze, weil ich ihm seelenruhig in die Augen geschaut hatte, als er mir stotternd (laut fluchend oder schüchtern nuschelnd) ein Wort schenkte, und ich das Wort einfach nur freundlich lächelnd mit warmer Stimme im ruhigen Tonfall wiederholte. Nachdem er mir dann zehn Minuten lang sein gesamtes Leben ausbreitete, kommt der manchmal magische Augenblick, wo wir uns liebevoll an den Händen fassen und ich sagen kann: "Sie waren eine gute Mutter. Ihre Kinder sind stolz auf Sie. Jetzt brauchen Sie sich keine Sorgen mehr zu machen." Und der Mensch schaut mich plötzlich mit weit aufgerissenen Augen erstaunt an, als ob er kurz aus seiner dementen Trance erwacht und sagt sichtlich erleichtert: "DANKE."


Danach kann es geschehen, daß der Nachtpfleger weniger Stress hat, weil dieser Mensch an diesem Abend weniger unruhig ist. Und am nächsten Tag spüre ich, daß der Bewohner mich noch mehr als eine Vertrauensperson empfindet, obwohl er womöglich krankheitsbedingt weder weiß, wer ich bin, noch daß wir uns gestern unterhielten geschweige denn worüber. Dann erleben wir manchmal dasselbe Gespräch mit der ein oder anderen neuen Nuance zum wiederholten Male, weil dieses Lebensthema bei ihm so dominant ist, daß sein gesamtes Verhalten davon beeinflusst wird. Und mit etwas Glück löst sich wieder für eine Weile der emotionale Knoten bei ihm.


Die Betreuung wird dadurch eine paradoxe Kombination aus Routine und Spontaneität. Und je länger und besser ich einen Bewohner kenne desto "routinierter spontan" kann ich ohne Hirnjoggingspiele, ohne Bingo, Domino, Dalli-Klick oder Memory viel mehr Realitätswahrnehmung aktivieren und situative Wachheit erzeugen als das gesamte Gedächtnistrainingsspektakel, das selten so individuell bedarfsgerecht auf den Mensch eingehen kann wie die Geduld des aktiv neutralen Nichtstuns.